
Leseprobe
Es gibt Menschen, die sehr alt werden und dennoch nie wirklich gelebt haben. Und es gibt Menschen, denen nicht so viel Zeit gegönnt ist, die aber verstanden, diese Zeit zu nutzen. Wir sind heute hier, um zu trauern. Aber auch um zu feiern. Wir feiern einen Menschen, der das Leben geliebt hat. Egal mit wem ich von euch über Hannah sprach, ihr alle erzähltet von dieser unbändigen Lebenslust, von diesem Funkeln in den Augen, einem Strahlen, das von ihr ausging.
Hannah, ein Sonntagskind, wie soll es anders sein.
Schon als Kind war sie neugierig und probierte alles aus. Klang auf der Speisekarte etwas besonders exotisch, konnte man darauf wetten, dass Hannah es probieren wollte. Von klein auf brachte sie frischen Wind in ihr Elternhaus, war ein lebendiges und immer fröhliches Kind. Sie sauste als Aladin mit ihrem Papa auf dem fliegenden Teppich umher und nicht umsonst war das Lied aus diesem Film eines ihrer liebsten. „Flieg' mit mir um die Welt. Sie gehört dir, Prinzessin“, heißt es da. Schon damals ahntet ihr, liebe Christiane, lieber Hans, dass ihr einen kleinen Weltenbummler ins Leben entsandt hattet.
(…)
Sie warf sich in jeden Tag, konnte sich an Kleinigkeiten erfreuen und auch die kleinen Dinge wertschätzen, sie liebte, was sie tat, in jeder Minute ihrer Lebenszeit. Als sie sich für ihr Medizinstudium entschied (woran Hans’ Begeisterung für diesen Beruf sicher nicht ganz unschuldig war), entwickelte sie einen enormen Ehrgeiz und zeigte sich von ihrer starken, zähen und manchmal auch sturen Seite. Das Studium ebnete ihr den Weg in einen Beruf, den sie sehr liebte - und zu einem Mann, den sie ebenfalls sehr liebte. Als ich Hannah damals fragte, was sie dachte, als sie dich, Paul, das erste Mal sah, da sagte sie: „Der ist bestimmt Familienvater und glücklich verheiratet!“
Es dauerte ein Weilchen, bis ihr zueinander fandet und Hannah darüber hinwegsehen konnte, dass du ja im Grunde genommen uralt warst. Möglicherweise war auch ein Eis im Spiel, mit dem du sie bei eurem ersten Date bestachst.
Sie fand in dir die Liebe ihres Lebens. Du fandst in ihr die Frau, die dein Leben in Balance brachte. Sie steckte dich mit ihrem Reisefieber an, sie zeigte dir, was das Leben neben der Arbeit alles zu bieten hatte, sie lehrte dich, auszuruhen und auf dich zu achten.
Hannah war nicht nur deine Frau, sondern auch deine beste Freundin, du konntest jeden Quatsch mit ihr machen, ihr unternahmt tolle Reisen und ihr wusstet immer, was ihr aneinander hattet.
Es gibt ein Sprichwort, das sagt: „Man weiß selten, was Glück ist, aber meistens, was Glück war.“ Bei euch war das anders. Ihr wusstet immer zu schätzen, welches Glück ihr miteinander hattet, ihr verstandet es, die schönen Erlebnisse wirklich wahrzunehmen und zu genießen. Ihr brauchtet diese verdammte Krankheit nicht, um euch daran zu erinnern, wie wertvoll das Glück ist.
(…)
Es fällt schwer, in einem solchen Schicksal Sinn zu finden und doch bin ich mir sicher, dass Hannah genau das gewollt hätte. Dass ihr euch heute darauf konzentriert, was diese Krankheit euch lehren kann. Denn bei allem was an dieser Krankheit schlecht war (und das war sie: sie war grausam, unfair, aggressiv und teuflisch), so brachte sie doch auch einige wenige gute Momente hervor. Sie brachte Menschen zusammen, die lange nicht miteinander gesprochen hatten, sie ermahnte, Nichtigkeiten ruhen zu lassen, sich nicht mit Streit aufzuhalten, sondern sich auf das Gute und Schöne zu besinnen, jeden Tag wertzuschätzen und Dinge nicht mehr aufzuschieben.
Man glaubt immer, man hat noch Zeit. Dem ist nicht immer so. Schiebt die schönen Dinge nicht auf, macht euch keine Pläne, sondern setzt sie um, erlebt jeden Tag bei vollem Bewusstsein.
(…)
Sie hat euch alle berührt, auf ihre ganz eigene Art und Weise. Und wenn man Hannah kennengelernt hatte, dann konnte man nie wieder der gleiche Mensch sein, der man vorher war. „Was Hannah in mir verändert hat, lebt in mir weiter“, sagtest du mir, Paul. Und ich glaube, ganz viele ihrer Freunde und ihre Familienmitglieder fühlen sich ähnlich.
Heute geht Hannah ihren letzten Weg. Sie war nicht gläubig im klassischen Sinne, trotzdem glaubte sie an eine höhere Macht und vielleicht auch an den Himmel. Und ich bin mir sicher: Wenn es einen Himmel gibt, dann steht sein Tor weit offen und dahinter wartet ein riesiges Eis auf Hannah.